In 184 Jahren hatte sie nur drei Mal geschlossen: in beiden Weltkriegen und während der Corona-Pandemie. Doch sonst wird in der Tanzschule Schaller weitergesteppt und geschwoft, als wäre das Leben ein ewiger Tanz. Heute, in der mittlerweile fünften Generation, führen die Schwestern Therese (33) und Henriette (38) Deutschlands älteste Tanzschule in Altenburg. »Unsere Eltern haben uns die Berufswahl freigestellt, wir wurden nie gedrängt. Wir sind hier hineingewachsen, verbrachten unsere Kindheit im Tanzsaal – und wollten auch nie etwas anderes machen«, erzählt Therese Schaller. Die Schwestern sind Tanzlehrerinnen, auch für Formations-und Sporttanz, und sie bilden Tanzlehrkräfte aus. 2011 haben sie das Zepter von ihren Eltern übernommen und sind nun Geschäftsführerinnen. Ihre Mutter Birgit war einst Schülerin an der berühmten Palucca Hochschule für Tanz in Dresden und tanzte im Berliner Friedrichstadt-Palast. Sie verliebte sich in Ulrich, der als Solotänzer 21 Jahre an der Dresdner Staatsoper engagiert war und die Tanzschule seiner Eltern in Altenburg weiter-führen wollte. Und so unterrichtet die heute 63-Jährige noch täglich Ballett für Kinder und denkt nicht ans Aufhören.
1839 wurde die Tanzschule gegründet
Väterlicherseits geht die Tanz-Dynastie bis zum Ururgroßvater zurück. 1839 begann Friedrich Schaller, Menschen das Tanzen beizubringen. Damals ein Novum, denn Tanzschulen für Bürger und Bauern gab es bis dato nicht. Tanzmeister unterrichteten die Adeligen als geschlossene Gesellschaft am Hofe. Die »Altenburger Nachrichtenblätter« berichteten damals, dass Schaller »mittwochs und sonnabends von drei bis fünf Uhr einen Sommerkurs im Turnen und Tanzen durchführen« würde. Und er »tut auch Bier auf«. Das Konzept kam an. 1879 übernahm sein Sohn Arno das blühende Geschäft – und so ging es weiter und immer weiter. Bis heute.
Was braucht es, um eine Tanzschule zu leiten? »Talent fürs Tanzen macht vielleicht zehn Prozent aus, der Rest sind Fleiß und Disziplin«, weiß Henriette. Was es tatsächlich brauche, ist etwas, was einen auch durch schwere Zeiten trägt: Liebe und Leidenschaft für den Beruf. »In der Pandemie hatten wir Existenzängste«, sagt Therese. Zwar gab es ein Online-Angebot, »aber die Leute wollten zu uns in den Tanzsaal kommen, die Atmosphäre spüren, dieses Gemeinschaftsgefühl.« Mittlerweile hat die 33-Jährige wieder Arbeitstage, an denen sie mit Kindertanz für Dreijährige beginnt und mit einem Kurs für Siebzigjährige aufhört. Alle Generationen fühlen sich auch heute noch von der Bewegung zur Musik angezogen. Und selbst der Klassiker, die Tanzstunde für die Achtklässler, erfreut sich großer Beliebtheit. Häufig kommen ganze Schulklassen geschlossen, um Walzer, Cha-Cha-Cha und Jive zu lernen. »Die Jugendlichen finden es schön, sich mal schick zu machen. Sie sind zum ersten Mal in ihrem Leben in der Situation, auf das andere Geschlecht einen guten Eindruck machen zu wollen«, sagt Therese. Der Abschlussball sei jede Saison wieder ein großes Highlight. Er findet in einem Kulturhof mit großem, repräsentativem Saal und Galerie statt.
»Lambada« bescherte einen Boom
Die knapp 185-jährige Tanzschule lehrt zwar klassische Tänze und Etikette, geht aber mit der Zeit und ist bei TikTok, Instagram und Facebook vertreten. »Die jungen Leute filmen sich beim Tanzen, sie laden ihre Videos in die sozialen Netzwerke hoch und ›vertaggen‹ uns. Ohne diese Form der Werbung geht es heute nicht mehr«, ordnet Henriette ein.
Interessante Phasen gab es für den Tanz immer wieder. Zu Zeiten der DDR etwa musste penibel darauf geachtet werden, nicht zu viel westliche Musik aufzulegen. »Weil Tanzschulen Orte sind, in denen Menschen zusammenkommen, können sich Parolen verbreiten. Damals musste man genau wissen, wem man was erzählen konnte«, sagt Henriette. Weil in der DDR das Tanzen gesellschaftlich wie auch sportlich einen hohen Stellenwert hatte, kamen Schallers gut durch die Jahrzehnte des Sozialismus. Legendär sind Joachim Schallers Eröffnungsworte eines jeden Balls: »Meine Regierung und ich begrüßen Sie auf das Herzlichste.« Gemeinsam mit Lieselotte führte Joachim die Tanzschule von 1930 bis 1989.
Auf das, was nach der Wende passieren würde, waren die Schallers bei aller Flexibilität nicht vorbereitet: Ein nie dagewesener Tanz-Boom sollte ein neues Zeitalter einläuten. Erst einmal waren da all die neuen Musikeinflüsse aus dem Westen – das fühlte sich in einer Stadt mit knapp 36.000 Einwohnern wie die ganz große Freiheit an. Aber da war auch ein neuer, »verbotener« Tanz, nach dem die Menschen verrückt waren: Lambada. 1989 löste er einen nie dagewesenen Hype aus, die Tanzschulen konnten sich kaum retten vor Begeisterten, die den Rhythmus auch in ihrem Blut entdecken wollten. Der Song verkaufte sich in Deutschland zwei Millionen Mal, er blieb zehn Wochen auf Platz eins der Charts. Und die Tanzkurse waren ausgebucht.
Mit Discofox und Walzer glänzt man immer
Dann folgte der Hip-Hop-Boom in den Neunzigern. Noch heute sind Jugendliche verrückt danach, die »Moves« zu erlernen – Schallers haben extra eine Lehrerin für Hip-Hop eingestellt. Aber auch Formations-tanz und Rock’n’Roll erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Manchmal kommt es den Schwestern Schaller vor, als sei die erfolgreiche ZDF-Fernsehreihe »Ku’damm 56«, die von Familie Schöllack und ihrer Tanzschule in der Nachkriegszeit im Berliner Westen erzählt, ein Film über ihre eigene Familie. »Wir erkennen viele Parallelen. Es ist schon irre, wenn man sich vor Augen führt, dass unsere Tanzschule damals ja auch schon existierte«, sagt Therese.
In den vergangenen fünfzehn Jahren hat der Gesellschaftstanz durch Formate wie die RTL-Sendung »Let’s Dance« einen Aufschwung erlebt. Auch in der Tanzschule Schaller ist die Show immer wieder Gesprächsthema bei den Tanzschülern. »Let’s Dance hat heute nicht mehr viel mit Gesellschaftstanz zu tun, es geht viel um Hebefiguren, das ist mir zu affektiert. Mehr bei den Basics zu bleiben, würde mir besser gefallen«, sagt Henriette. Sie ist sich sicher: Gesellschaftstänze werden nie aus der Mode kommen, weil sie auf dem Parkett Werte und Sicherheit vermitteln.
Für alle Tanzmuffel haben die Schwestern Schaller auch noch einen Tipp für den nächsten Ball: Mit Discofox und einem langsamen Walzer glänzt man immer. Und überhaupt: Nicht tanzen können, das gibt’s gar nicht. »Gerade Männer bleiben gerne mal von der Tanzfläche fern und winken mit den Worten ab: Ich tanze nicht. Obwohl sie vielleicht gerne würden. Meistens haben sie mal eine schlechte Erfahrung gemacht«, meint Therese. Dabei sei der Tanz gerade auf einem Ball so wichtig – ohne ihn wäre er doch bloß eine Stehparty, auf der man Champagner trinkt und Häppchen isst. Noch heute sei der Paartanz eine ganz spezielle Form der Intimität: diese wenigen Minuten auf der Tanzfläche, in der sich zu Musik und Tanzschritten ein wenig Magie einstellt. »Letztlich ist ein Tanz die wunderbare Gelegenheit, als Paar Zusammengehörigkeit zu demonstrieren«, resümiert Henriette. Weil es immer weniger Bälle gibt, wäre es doch zu schade, bei diesen seltenen Gelegenheiten dann nicht mit Freude zu tanzen.
Übrigens: Die alte Regel, dass der Herr führt, gilt auch heute noch. »Die Dame muss sich führen lassen. Das ist natürlich schwierig bei einer Tanzlehrerin. Aber wenn man das schon eine ganze Weile macht, lernt man, wie man den Herren führt, ohne dass er es mitkriegt«, sagt Henriette und lacht.
Die nächste Generation läuft sich in der Tanzschule Schaller bereits warm: Die Kinder von Therese und Henriette, erst fünf und zwölf Jahre alt, hat das Tanzfieber schon gepackt. Deren Väter haben mit Tanzen wenig Berührungspunkte. Was praktisch ist, denn so ein Tag in der Tanzschule geht in der Regel bis 22 Uhr. Oder wie es Henriette formuliert: »Das ist ein 24/7-Job.« Das Leben ist eben ein ewiger Tanz.
Das Interview mit den Schwestern Therese und Henriette Schaller, die in fünfter Generation die Tanzschule leiten,
führte Kira Brück.
(Erschienen im Magazin GLANZ zum 70. Bundespresseball, Dezember 2022)